Entr’acte: Analyse (2)
Die transparente Leinwand: ein Film ist ein Film ist ein Film
Am Ende von Entr’acte erscheint, nachdem der aus dem Sarg springende Jäger die Trauergäste und schließlich auch sich selbst aus dem Filmbild gezaubert hat, der Schlusstitel »Fin«. Dies ist jedoch nicht das Ende des Films: Das Bild mit dem Schlusstitel reißt ein und durch die Öffnung springt der Zauberer in Richtung Zuschauer. Die nächsten Einstellungen unterscheiden sich in den erhaltenen Versionen des Films. In der Tonfilmfassung von 1967 folgt eine Einstellung mit dem Zauberer, der auf dem Boden liegend von einem Fuß getreten wird. Die darauf folgende Einstellung ist eine Wiederholung, nämlich die gleiche wie der Sprung durch den Schlusstitel – nur rückwärts laufend. So wird der Zauberer durch den Fußtritt quasi zurück in den Schlusstitel befördert, der sich damit wieder zu einem, jetzt endgültigen, »Fin« schließt.
In der älteren Stummfilmfassung ist zwischen den beiden Sprüngen und vor dem Fußtritt noch eine weitere Einstellung zu sehen: Der Zauberer gestikuliert in Richtung Kamera/Zuschauer und macht deutlich, der Film sei noch nicht zu Ende.
Daraufhin kommt der Geschäftsführer des Theaters, in dem der Film uraufgeführt wurde, ins Bild und behandelt den Zauberer wie einen Störer, den er der Szene verweist. Erst dann folgen die Einstellungen mit dem Fußtritt und der endgültige Schluss. Die Grundstruktur beider Versionen ist gleich. Der Unterschied besteht nur darin, dass die alte Version das Konzept ausführlicher vermittelt und mit dem Auftritt des Theatergeschäftsführers noch stärker in die Vorführsituation der Uraufführung eingebunden ist.
Mit dem Durchbrechen der Leinwand wird eine Konvention des Films durchbrochen: sobald der Schlusstitel erscheint, ist der Film zu Ende. Schlusstitel werden, seien es Rolltitel oder eine Texttafel, nicht als Teil des eigentlichen Films angesehen. Sie stehen außerhalb der Filmerzählung. Schlusstitel haben mit dem filmischen Raum genauso wenig zu tun wie etwa ein Etikett auf der Filmdose mit dem Filmerlebnis. Nicht so in Entr’acte!
Der Schlusstitel ist zwar zweidimensional, nämlich eine Fläche mit der Aufschrift »Fin«, doch wird plötzlich durch das Aufreißen die dritte Dimension im filmischen Raum reaktiviert. Die Aktion verweist selbstreferentiell auf die räumlichen Gesetzmäßigkeiten des Mediums.
Doch Entr’acte hat noch eine weitere Ebene auf einer höheren Abstraktionsstufe: der Schlusstitel entpuppt sich als Filmleinwand. So entsteht der Effekt eines Films im Film. Da es aber eine abgefilmte Filmleinwand ist, kann sie keine reale dritte Dimension haben. Indem die Autoren die Szene des Durchbrechens der „Kinoleinwand“ noch einmal rückwärts laufen lassen, deuten sie direkt auf diese Paradoxie hin.
Es zeigt sich: auch ein Film, der sich selbstreferentiell als Film zeigt, bleibt ein Film und kann den Gesetzen des Mediums nicht entkommen.
Sinnbildlich dafür steht die Figur des Zauberers, die versucht mithilfe ihrer Tricks, die eben Filmtricks bleiben, aus den Gesetzmäßigkeiten des Mediums auszubrechen.
Während also im Prolog von Entr’acte durch die Adressierung des Publikums aus dem filmischen Raum heraus bereits eine erste Meta-Ebene aktiviert wird, geht der Schluss des Films noch einen Schritt weiter. Hier überlappen sich zwei ineinander geschachtelte, filmische Räume und setzen diese in Bezug zum realen Raum der Filmvorführung.
Wie durchdacht dieses doppelbödige Spiel mit dem filmischen Raum ist, zeigt auch eine genaue Beobachtung des „Hintergrunds“ des Schlussbildes. Der konventionellen filmischen Kontinuität folgend, hätte durch den Riss der „Leinwand“ wieder die Landschaft sichtbar werden müssen, aus der die Protagonisten und der Zauberer zuletzt verschwanden. René Clair und Francis Picabia zeigen jedoch stattdessen „hinter der Leinwand“ die gleiche Ansicht der Dächer von Paris wie im Prolog des Films, die vom Dach des Theaters aufgenommen wurde, für den der Film gedreht wurde. So schließen sich die mehrstufig verschachtelten Metaaussagen des Films zu einem Kreis.
Hinweis: Welche filmgestalterischen Methoden in Entr’acte – zwischen Prolog und Schluss – angewandt werden, wird in >>Entr’acte: Filmische Gestaltungsmittel erläutert.