Found-Footage-Film – Aneignung: Home Stories von Matthias Müller

Einführung – Matthias Müller

©Matthias Müller

Matthias Müller (geb. 1961) begann Anfang der 80er Jahre Filme zu drehen. In dieser Zeit hatte sich abseits der etablierten Pfade eine neue Kurzfilmszene entwickelt. Es waren überwiegend Quereinsteiger, die, ausgestattet mit preiswerten Consumer-Kameras (erst Super 8 und dann Video), sich gleichermaßen vom formalistischen Experimentalfilm wie vom narrativen Mainstream-Kino absetzten. Sie experimentierten zwar mit den Kameras und dem Material wie der >Strukturelle Film, machten aber keine abstrakten, sondern figurative Filme mit narrativen Elementen. Die Haltung war unakademisch, aber dennoch ästhetisch kritisch.

Das Material suchten und fanden diese FilmemacherInnen in ihrer medialen Umgebung – insbesondere im Fernsehen. Der öffentlichen Bilderflut entrissen, nutzten sie dieses Material einerseits ikonoklastisch gegen die Herkunftsmedien gewendet, andererseits aber konstruktiv zur Schaffung eigener Bildwelten. Matthias Müller, der selbst auch mit Super-8 zu drehen begann und einer Gruppe Bielefelder Filmemacher angehörte, entwickelte früh einen eigenen, sehr persönlichen filmischen Stil. Müller verwendet in seinen Arbeiten oft – aber nicht immer – Found Footage. Er greift auf ‚fremdes’ Material zurück, weil es zu seiner Umgebung oder seiner Sozialisierung gehört, oder weil es sich eignet seiner eigenen filmischen Konzeption Ausdruck zu verschaffen. In vielen seiner Found-Footage-Filme bearbeitet Matthias Müller das Material so stark, dass die Herkunft nicht unmittelbar erkennbar ist. Anders als bei den Found-Footage-Varianten Kompilations- oder Collagefilm wird das Material so für eigene Bildwelten angeeignet, dass es seinen Zitatcharakter verliert. Die angeeigneten Bildwelten dienen der (Re-)Konstruktion einer neuen Bildwelt.


Home Stories

Inhalt: Eine Frau geht zu Bett, schläft ein und beginnt zu träumen. Dieser Traum führt sie in eine Landschaft aus Licht und Schatten, wie sie, laut Tscherkassky, »in dieser Form nur die klassische Kinematographie hervorzubringen imstande ist«.

Standbild aus „Home Stories“ von Matthias Müller

In Home Stories (D 1990) verwendet Matthias Müller Material aus Hollywood-Dramen der 50er und 60er Jahre. Das Ausgangsmaterial waren Videomitschnitte der verwendeten Filme. Müller wählte Szenen mit Frauen aus, die von den Schauspielerinnen Lana Turner, Kim Nowak, Tippi Hedren, Lauren Bacall, Jane Wyman und Audrey Hepburn gespielt werden, in denen die Protagonistinnen in ähnlichen Situationen zu sehen sind. Es sind Szenen mit gleichen Gesten und Handlungen in ähnlicher Stimmung, die sich allesamt in Privaträumen – meist Schlafzimmer – der Protagonistinnen abspielen: unruhiger Schlaf im Bett, Aufwachen, Licht einschalten, Aufstehen, am Fenster oder an der Tür lauschen, Zimmerlicht ein und ausschalten etc..  Die Sequenzen folgen vom gestörten Schlaf bis zum nervösen Wachen einem narrativen Bogen, der aber keinen Plot hat. Dieser narrative Bogen entfaltet sich zu einem sich steigernden Spannungsbogen, von der Irritation über Angst bis zur Panik. Unterstützt wird dies durch Dirk Schaefers melodramatische Musik, die an Bernard Herrmanns Musik zu Hitchcock-Filmen erinnert. Die Bearbeitung verdichtet den dramatischen Umschlag vom geborgenen Heimischen zum bedrohlichen Unheimlichen. Dies gelingt Müller, obwohl keinerlei konkrete Bedrohung im Bild manifest wird.


Szene aus: »Home Stories« von Matthias Müller (65 Sek.); Zitatquelle: Matthias Müller, Demoband


Der Betrachter von Home Stories wird durch die Verdichtung und das distanzierte Nacherleben vergleichbarer Kinoerfahrungen auf seine Rolle als aktiver Voyeur gestossen. Da die Szenen ausschließlich Frauen allein in klaustrophobisch wirkenden Privaträumen zeigen, wird außerdem deutlich wie Frauen in diesem Filmgenre als Opfer eines voyeuristischen Blicks positioniert werden. Auch Kenner der Filme aus dieser Periode dürfte überraschen, wie sehr sich die Gesten und Bewegungen in dieser Sammlung immer wiederkehrender Suspense-Motive und Handlungsklischees aus verschiedenen Filmen ähneln. So wird auf der Metaebene eine filmische Kodifizierung des Hollywood-Kinos deutlich, die aufgrund ihrer seriellen, aber nahtlos ineinander übergehenden Montage fast satirischen Charakter gewinnt. Doch ist Home Stories weit davon entfernt die Handlungsklischees und damit letztlich auch die Protagonistinnen der Lächerlichkeit preiszugeben, was angesichts des Materials ohne weiteres möglich gewesen wäre. Vielmehr lässt Müller Raum für die Bewunderung der Schauspielerinnen, ihre Schönheit und ihre Leistung.  Eine Bewunderung, die Müller persönlich teilt und damit Home Stories indirekt zu einer Hommage macht.

Filmografische Angaben:
Home Stories, Matthias Müller, Musik/Ton: Dirk Schaefer; D 1990, 16mm, f, 6 Min.
Film verfügbar bei: Kurzfilmverleih Hamburg
Weitere Filme bei: arsenal distribution
Weitere Arbeiten von Matthias Müller vertreten von: Galerie Volker Diehl (Berlin), Distrito Cu4tro (Madrid), Thomas Erben Gallery (New York), Stellan Holm Gallery (New York), Timothy Taylor Gallery (London).