Mythos Programmkino

1962 proklamierten junge FilmemacherInnen im Oberhausener Manifest das Ende von ‚Papas Kino‘. »Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films«, behaupteten sie, »entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden.« Gemeint war die Filmproduktion, während tatsächlich erst einmal der Kinowirtschaft der Boden entzogen wurde. Denn, nach dem Kinoboom der 50er Jahre machte in den 60er Jahren insbesondere die Verbreitung des Fernsehens mit seinen kostenlosen Spielfilmangeboten den innerstädtischen Einzelhäusern das wirtschaftliche Überleben schwer.

Die meisten Kinounternehmer reagierten mit baulichen Änderungen: sie setzten kleine Kinos, wie Schachteln, in ihre inzwischen überdimensionierten Häuser. Ehemals Filmpalast genannte Filmtheater wurden fortan, wenig charmant, als Kinocenter bezeichnet. An der Programmpolitik änderte sich aber kaum etwas.

Als Reaktion auf den Wandel entstanden in den 70er Jahren aber alternative Kinos, die ein festes Monatsprogramm anboten und sich deshalb als Programmkino bezeichneten. Charakteristisch war die Herausgabe eigener monatlicher Programmzeitungen, und, daß sie sich nicht ausschließlich am dominierenden deutsch-amerikanischen Verleihangebot orientierten, sondern auch damals sogenannte Independent-Filme, europäische und die neuen deutschen Filme der o.g. Oberhausener zeigten. Programmkinos waren damit Teil eines gesamtgesellschaftlichen Kulturwandels (in Folge der 68er). Das Publikum war überwiegend akademisch. Insbesondere Nachtvorstellungen, die es heute nicht mehr gibt, waren damals beim studentischen Publikum sehr beliebt.

Cinema Ostertor, Bremen – eines der ältesten Programmkinos
Bild: Bic-Kugelschreiber auf Leinen; Foto: Jens Weyers CC-by-sa/4.0

In der relativ kurzen Zeit der Blüte gab es auch in Mainz ein Programmkino – das „Atlantis“ im Saal 1 vor den 3 eingesetzten Schachteln im Saal des ehemaligen Scala-Kino (Hintere Bleiche). Dort waren damals unter anderem Filme von Woody Allen, Peter Greenaway und sogar von Avantgardisten wie Chris Marker zu sehen. Ende der 90er Jahre wurde es aufgegeben und von wechselnden Besitzern ihren jeweiligen Kinoketten angegliedert.

Unterdessen entstanden auch bundesweit sogenannte Kommunale Kinos („Andere Filme anders zeigen!“) mit städtischer Unterstützung – kulturpolitisch vor allem von dem Sozialdemokraten Hilmar Hoffmann („Kultur für alle“) vorangetrieben, der übrigens sein Konzept zuerst als Leiter der VHS im Filmclub Oberhausen erprobte.[1]

Die Entwicklung wurde in Mainz von der Politik verpasst. Der alternative nicht-gewerbliche Filmclub Orfeo (Emmerich-Josef-Straße), der unter anderem Stummfilmaufführungen mit Live-Musik, die auf Apfelsinenkisten heftig diskutierten Premieren des ersten Films von Rosa von Praunheim oder des von Manfred Salzgeber herausgebrachten Films über die portugiesische Nelkenrevolution sowie Produktionen regionaler Filmemacher als auch erstmals in Mainz Filme von Syberberg, Sander und Fassbinder zeigte, wurde zunächst durch den Club Orfeo (heute Red Cat) querfinanziert, musste aber angesichts zu geringer öffentlicher Förderung nach wenigen Jahren aufgeben.

Schon in der nächsten Kinowirtschaftskrise – mediengeschichtlich zeitgleich mit der Einführung des Videorekorders und der TV-Fernbedienung – war auch der Betrieb von Programmkinos wirtschaftlich nicht mehr tragfähig. Der Kult um sie blieb aber bis heute und die damals jungen Kinogänger gehören heute als SeniorInnen zu einer wichtigen kinoaffinen Altersgruppe.

Mittelständische Kinounternehmen, wie z.B. die Gilde-Kinos, hielten in den 90er Jahren das Fähnchen des anspruchsvollen Films noch an sogenannten Filmkunsttagen aufrecht. Die größeren Mainstream-Kinocenter retteten sich in Blockbuster-Strategien und Action-Unterhaltungsfilme für ein jugendliches Kinopublikum. Bald wurden diese wiederum – mit der selben Strategie – von Multiplex-Kinoketten überholt, die aufgrund der großen Zahl an Leinwänden den wirtschaftlich schwächeren Häusern lukrative Filmeinsätze blockieren konnten.

Soweit sie nicht ganz aufgegeben wurden, überlebten einige ehemalige Programmkinos mit einem anderen Geschäftsmodell als Arthouse-Kinos. Der Begriff kam aus den USA (wo aber arthouse nicht-gewerbliche Kinos bezeichnete). Hierzulande wurde der Begriff Arthouse zunächst als Branding für qualitativ anspruchsvollere Filme erfolgreich eingeführt, später auch zur Bezeichnung von Kinos verwendet, die Arthouse spielen.

Das Geschäftsmodell der Arthouse-Kinos hat jedoch wenig mit dem der alten Programm-Kinos gemein. Wie in allen gewerblichen Kinos heute, werden dort Filme je nach Kassenlage (die sogenannten Wochenendzahlen von Donnerstag bis Sonntag) entweder aus dem Programm genommen oder um eine weitere Kinowoche prolongiert. In Arthouse-Kinocentern ist es, wie in Multiplex-Kinos, auch gängige Praxis nicht mehr ganz so gut laufende Titel in einen kleineren Saal zu verschieben oder umgekehrt sogenannte Sleeper, die überraschend Besucherdynamik entwickeln, von einer kleinen auf eine große Leinwand zu bringen.

Die Folge dieses Geschäftsmodells ist ein wöchentliches Tauziehen (jeden Montag), bei denen sich bei der Dispositionsentscheidung je nach Marktmacht entweder die Verleihe oder die Kinos durchsetzen. Angesichts der schwierigen Situation der Kinoauswertung generell, könnten aber beide als Verlierer aus diesem Wettbewerb gehen. Selbst große börsennotierte Kinounternehmen, die mit Verleihern Exklusivverträge und Rabatte aushandeln können, sind bereits ins Straucheln geraten, weil es zu wenige Filme, die Blockbuster werden, gibt, und, weil sie dem Konkurrenzdruck anderer Filmauswertungen (VoD) nicht mehr standhalten können.[2]


Aus filmkultureller Sicht bedeutet diese Praxis eine Verengung des Angebots auf Filme, die in den Zuschauer-Rankings auf den oberen Plätzen stehen (überwiegend US-amerikanische Spielfilme). Nur gut geförderte Kommunale Kinos, die nicht auf hohe Einspielergebnisse und Prolongation zur Ausbesserung der Kasse angewiesen sind, können die Vielfalt der (Welt-)Filmkultur durch dichten Programmwechsel, wie einst die Programmkinos der 70er Jahre, abbilden. In den meisten Städten haben Kommunale Kinos die Funktion der Programmkinos mitübernommen. So ist es für Insider auch keine Überraschung, dass gemäß einer Auswertung der Kinoprogramme in Mainz und Wiesbaden im gleichen Zeitraum die beiden Wiesbadener Kommunalen Kinos (Caligari und Murnau) doppelt so viele verschiedene Filme (inklusive Arthouse-Titel zum Filmstart) zeigten als alle Mainzer Kinos zusammen!


Aktueller Nachtrag: Die Bundesbehörde FFA – German Federal Film Board geht nicht mehr von einer eindeutigen Definition des Begriffs Programmkino aus. In einer jüngsten Umfrage zum Investitionsbedarf von Kinos unterscheidet die FFA folgende Kinoformen nach Programmarten: Arthouse, Mainstream, sowohl Arthouse als auch Mainstream und Kommunales Kino.

Auf unsere Anfrage nach dem Status des CinéMayence antwortete die Abteilung Marktforschung der FFA: »Die Definition erfolgt vor allem über die Programmgestaltung und weiteren Kennzeichen (…) Ein Kommunales Kino kann somit sowohl als Programmkino gezählt werden als auch als herkömmliches Kino – je nach Ausgestaltung des Programms. Eine Einordnung bzw. ein Vergleich Ihres Kinos mit der Sonderform kulturelles/kommunales Kino in unserer Auswertung ist korrekt.« (April 2023)

[1] Aus dem VHS Filmclub heraus gründete Hoffmann die Kurzfilmtage Oberhausen. Sein Stellvertreter Andreas Schreitmüller (zuletzt Spielfilmchef bei ARTE, Strassbourg) war Gründungsmitglied der AG Stadtkino e.V.

[2] s.a. unser Artikel „Kinowirtschaft in der Klemme“ https://cinemayence.online/kinowirtschaft-in-der-klemme-von-mehreren-seiten-bedraengt/


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