
„Ich verlange, dass du dich umschaust und dir die Tragödie, die sich gerade abspielt, vergegenwärtigst.“ (Pier Paolo Pasolini, in seinem letzten Interview, 1. November 1975, wenige Stunden vor seiner Ermordung)

Im Jahr 2018 bricht der deutsche Regisseur Pepe Danquart auf nach Italien, um dort einen Dokumentarfilm zu drehen. Auch er ist fasziniert von diesem Land, doch die Wurzeln der Faszination reichen nicht mehr zurück bis Goethe oder den Romantikern. Die Faszination ist bei Danquart, geboren 1955, eine, die vor allem geprägt ist vom italienischen Film und der italienischen Literatur nach 1945, geprägt vor allem durch das Werk von Pier Paolo Pasolini. In einem Interview sagt Danquart, er habe kein Drehbuch gehabt, als er die Reise begann. Da sei nur die Idee gewesen, noch einmal eine Reise rund um Italien zu machen, die Pasolini im Sommer 1959 im Auftrag der Zeitschrift „Successo“ machte. Mit dem Fotografen Paolo di Paolo an der Seite sollte Pasolini erkunden und dokumentieren, wie sich Italien und die ItalienerInnen veränderten in der Zeit des wirtschaftlichen Booms, der das Land Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre auf prekäre Weise in die ökonomische Moderne katapultierte, zumindest den Norden Italiens. Als Pasolini den Auftrag erhielt, war er noch nicht der international renommierte Schriftsteller, Filmemacher und radikale Intellektuelle, der er in den 1960er Jahren wurde, bevor er nach seiner bis heute nicht aufgeklärten Ermordung 1975 auch der mythischen Verklärung anheimfiel. Ende der 1950er Jahre war Pasolini in Italien berühmt und berüchtigt durch seine beiden Romane „Raggazi di vita“ (1955) und „Una vita violenta“. Pasolinis Romane erzählen, und dies war neu in der italienischen Literatur, vom Leben des auf seine rein physische Existenz reduzierten Subproletariats in den Borgate, den slumähnlichen Vororten Roms, in denen die Menschen leben, die Italien auf seinem großen Sprung nach vorne nicht braucht, die aber auch nicht mitspringen wollen oder können. Pasolini feiert dieses Leben als ein wildes, leidenschaftliches, das sich ganz dem Augenblick hingibt und die Gewalt und den Tod nicht scheut. Das erregte Aufsehen und Anstoß, nicht allein wegen gelegentlicher Obszönität, sondern vor allem, weil Pasolini, ein ketzerischer Marxist und Kommunist, ein ebenso ketzerischer, weil atheistischer, Katholik und Homosexueller, sich wie die Protagonisten seiner Romane gegen den Fortschritt stellte und schon früh auf dessen Opfer hinwies. Die Zeitschrift wusste also, wen sie auf die Reise durch das neue moderne Italien schickte. Die Texte und Fotos erschienen im Sommer 1959 unter dem Titel „La lunga strada di sabbia“, die deutsche Übersetzung als „Die lange Straße aus Sand“ erst im Jahr 2009. Das ist die italienische Reise, auf die sich Pepe Danquart 2018 machte, nun, um zu sehen, was fast sechzig Jahre danach noch geblieben ist von diesem Italien – und Danquart begibt sich auch auf die Suche danach, was mehr als vierzig Jahre nach Pasolinis Tod von ihm noch geblieben ist in Italien.
Pasolini beginnt seine Reise an der Grenze von Italien zu Frankreich und bewegt sich dann in seinem Fiat an der Küste gen Süden, folgt dem „bunte(n) Strom des Lebens, voll angestauter Daseinslust“, folgt „diesem großen Fest der Liebe.“ Er streift die Orte, an denen die europäische Literatur lebte, D’Annunzio, Aldous Huxley, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke. Fast ist es, als würde sich hier eine Huldigung an das dolce vita mischen mit den Eindrücken eines gebildeten Travellers. Er trifft befreundete Künstler, Alberto Moravia, Federico Fellini, Luchino Visconti. Aber erst nach Ostia, dem Badeort in der Nähe Roms (wo Pasolini 1975 auf brutale Weise ermordet wird), verändert sich seine Perspektive: „Ganz allein, ich und mein Fiat Millecento, und der ganze Süden vor mir. Das Abenteuer beginnt.“ Auch Pasolini ist fasziniert vom Süden, mehr als das: „Aber meine Reise zieht mich nach Süden, immer weiter nach Süden, wie in süßem Zwang, ich muss weiterfahren, ohne mich ablenken zu lassen.“ Er schreibt gar, ein „Dämon des Reisens“ dränge ihn „nach Süden, bis an die äußerste Spitze.“ Was ihn im Süden immer wieder innehalten lässt, ist die Schönheit der Landschaft: „Hier erzeugt die Schönheit unmittelbar Reichtum. Die Menschen leben in einer Art unbesorgtem Wohlstand, indem sie die Schönheit für sich arbeiten lassen.“ Die Faszination schlägt schließlich um in Mythisierung; „Im Süden ist die Nacht noch genauso wie vor Jahrhunderten.“ – Pasolinis Reise an der italienischen Küste entlang in den Süden ist so nicht nur eine Reise im Raum; es ist eine Reise in der Zeit, eine Reise zurück in ein Italien vor der Moderne. Als er seinen Fiat wieder Richtung Norden steuern muss, ist das ein Schmerz: „Lebe wohl, Süden, unermessliches Kafarnaum, Getümmel der Armen, der Diebe, der Hungrigen und der Sinnlichen, unverfälschter und geheimnisvoller Speicher des Lebens, der nun hinter mir liegt.“ Genau das war es, war Pasolini in seinen beiden Romanen in den Borgate entdeckt hatte und im Süden wiederfand: ein unreglementiertes Leben mit Wurzeln in Zeiten lange vor der Moderne. Die aber, der Fortschritt in Gestalt des industriellen Massentourismus, ist auf dem Weg zurück nach Norden nicht zu übersehen: „Die ersten zweisprachigen Strände. Sämtliche Schilder auf Italienisch und Deutsch.“ An der Adria ist die „offizielle Sprache“ Deutsch, „die Strände sind die Strände Deutschlands und Österreichs.“ Die Städte und Dörfer verändern sich auch architektonisch; sie gleichen sich einander an. Auch die Menschen werden für Pasolini physiognomisch immer ähnlicher: „Ein Strom von hässlichen Deutschen und lästigen ugendlichen aus dem Hinterland reißt alles mit sich fort.“ Schon 1959 sieht Pasolini Italien am Beginn einer radikalen Transformation, die zum Verschwinden bringen wird, was das Land einmal war. In seinen immer radikaler, verzweifelter werdenden Texten Anfang der 1970er Jahre, die 1978 in deutscher Übersetzung als „Freibeuterschriften“ erschienen, spricht er von einer „anthropologischen Revolution“ in Italien durch die Industrie- und Konsumgesellschaft, durch Massenkultur und Hedonismus; er spricht sogar von einem „Völkermord“ an der „Welt der Bauern, (der) Welt des Subproletariats und (der) Welt der Arbeiter“ und an den Menschen in den „Ländern der Dritten Welt“. Für Pasolini formt die westliche Moderne alles nach ihrem Bild und lässt nichts überleben, was dem sich nicht fügt.

Pepe Danquart reiste nicht nur mit Pasolinis „Die lange Straße aus Sand“ nach Italien; er hatte auch die „Freibeuterschriften“ dabei, wenn nicht im Gepäck, dann im Kopf. Sein Film VOR MIR DER SÜDEN ist das Ergebnis einer doppelten Desillusionierung. Die deutsche Italien-Sehnsucht führt heute Millionen in All-Inclusive-Hotels, längst nicht mehr in letzte Refugien, in „Überbleibsel der Romantik“, von denen sogar Pasolini 1959 noch spricht. Aber auch von Pasolinis magischem Süden ist nichts mehr übrig, wie der in den „Freibeuterschriften“ schon notiert. VOR MIR DER SÜDEN dokumentiert eine melancholische Reise, ist ein melancholischer Film. Ulrich Tukur liest im Off Passagen aus Pasolinis „Die lange Straße aus Sand“, als würde Danquart tatsächlich sich 2018 nur leiten lassen von diesem Buch. Da sind zu Beginn des Films auch die bekannten Italien-Bilder, die auch Pasolini entwirft: das Meer, der Strand und das Strandleben, drei Damen, die über die deutschen und englischen Touristen sprechen, die die Küsten in Besitz nehmen, und für die, wie ein Hotelmanager routiniert in die Kamera spricht, hier faktisch alles kostenlos sei, bis zum Italienischkurs für Ausländer. Dann bricht plötzlich ins bunte Tourismusgetriebe in Schwarzweißfilm wie aus einer anderen Welt etwas ein: Dokumentaraufnahmen von Pasolini, der sich einmal eine „Kraft des Vergangenen“ nannte, und aus dieser Vergangenheit spricht er von seiner Liebe zum Volk, das er verschwinden sieht. Doch Pasolini ist nicht allein in solchen Dokumentaraufnahmen gegenwärtig in Pepe Danquarts Film. Er trifft in Genua einen Hafenarbeiter, Luca, der direkt in die Kamera spricht über die desolaten Arbeitsbedingungen nach der Privatisierung – und über Pasolini, der den Mut gehabt habe, den Mächtigen „erhobenen Hauptes ins Gesicht zu blicken und zu sagen, dass er da nicht mitmachen wollte“ in der immer schneller voranschreitenden Unterwerfung des Lebens unter die Gebote des Kapitals. Das Zentrum des Films ist eine Sequenz, in der ein Mann aus dem Gedächtnis Zeilen aus Pasolinis Gedicht „Prophezeiung“ vorträgt, aus dem 1965 in Italien erschienen Band „Ali mit den blauen Augen“. In der Tat ist das heute, nach fünfzig Jahren, eine beeindruckende Vision der Welt, in der Millionen von Menschen nach Europa fliehen: „Ali mit den blauen Augen,/ einer der vielen Sohnessöhne / wird von Algerien kommen, / auf Segel- und Ruderschiffen. / Tausende von Männern werden mit / ihm sein, Augen und Leiber / armer Hunde ihrer Väter.“ Immer wieder trifft Danquart auf seiner Reise Menschen, die sich auch mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod an Pasolini erinnern, keine Intellektuellen, sondern Menschen, die er (offenbar) zufällig trifft: in Ostia eine Mutter und ihren Sohn, die in Wechselrede ihren Eindruck von Pasolini zusammensetzen, alte Herren, die über den Mord an Pasolini spekulieren, Männer, die seine „Freibeuterschriften“ auf die Gegenwart übertragen. Was immer Pasolini auch anklagte, es wurde seit der Regierung Berlusconis immer schlimmer. Danquarts Film zeigt die ökonomischen und vor allem sozialen Konsequenzen des hemmungslosen Neoliberalismus und der Naturzerstörung in Italien, die aber für ganz Europa gelten: Menschen, die von ihrer Rente nicht werden leben können, Obdachlose, Fischer, die mehr verdienen würden mit dem Fang von Plastikmüll als mit dem von Fischen, Dörfer und kleine Städte, die veröden, auch weil jede medizinische Versorgung fehlt , und immer wieder das Elend der Migranten. Nicht nur im Süden, in Palermo, geht der Markt direkt in den Müll über. „Europa ist kein Eldorado“. Das sagt ein Mann, der aus Afrika nach Italien kam, wie viele andere Flüchtende auch: Menschen, das zeigt Danquart, die in Zeltstädten leben müssen, die nicht einmal so bewohnbar sind, wie es die Slums der Borgate waren, die Pasolini in seinem ersten Film „Accattone“ (1961) zeigt. Und dann reicht nicht nur in den Dokumentaraufnahmen, die Pasolini, leidenschaftlich redend, die voranschreitende Konformität anklagend zeigen, etwas aus seiner Welt in Danquarts Film hinein. Danquart zeigt uns zwei Hirten, Ikonen des archaischen Lebens, das Pasolini in seinen letzten Filmen und Texten immer verzweifelter als Utopie gegen die Moderne heraufbeschwor, hier inmitten der Urbanität. Der eine Hirte ist ein junger Afrikaner, der andere ein alter Italiener. Beider Welt ist unwiederbringlich eine der Vergangenheit. Nichts ist geblieben von Pasolinis Hoffnung auf den Süden, den Italiens und den, der weit über Europa hinausgeht. Danquarts Rückreise aus dem Süden in den Norden ist eine in den Nebel, dann ins Touristen- und Showbusiness von Venedig, schließlich ins Grau von Triest. Die Reise, die Pasolini in „Die lange Straße aus Sand“ von der italienisch-französischen Grenze antrat, um sie zu beenden an der Grenze Italiens zum damaligen Jugoslawien, die führt Pepe Danquart in VOR MIR DER SÜDEN durch ein anderes Italien, durch ein anderes Europa und hinein in eine andere Welt.
Bernd Kiefer
Im Auftrag der AG Stadtkino e.V. zum Kultursommer Rheinland-Pfalz 2024