Der britische Künstler Peter Greenaway, der Malerei am Royal College of Art studierte, dann weltweit als Regisseur bekannt wurde und sich schließlich vom Film ab und der Medienkunst zuwandte, hat über mehrere Jahre hinweg wiederholt seine These vom Niedergang des Kinos vorgetragen. Den häufig zitierten Satz »Cinema died on the 31st September 1983 when the zapper, or the remote control, was introduced into the living-rooms of the world« hat er wohl zum ersten Mal[1], zumindest schriftlich, für die Cinema Militans Lecture[2] 2003 formuliert.
Der provozierende Einleitungssatz des Essays, »Das Kino starb am 31. September 1983, als auf der ganzen Welt die Fernbedienung Einzug in die Wohnzimmer hielt«. Die Irritationen, die der Artikel auslöste, hat Greenaway mit der Datierung auf einen Tag, den es im September nicht gibt, wohl bewußt ausgelöst. In der öffentlichen Wahrnehmung, auch in der Fachwelt, in der die These meist auf „cinema is dead“ verkürzt wurde, ist dabei meist auch übersehen worden, dass die Überschrift des Essays „Toward a re-invention of cinema“ lautet. Es geht ihm also um die Zukunft des Kinos, nicht um sein Ende.
Richtig ist, dass Greenaway die traditionelle, bis dahin weltbeherrschende Unterhaltungstechnologie des Medium als ‚gehirntot‘ bezeichnete. Er selbst zog daraus seine künstlerischen Konsequenzen. Sein letzter Spielfilm, der auch in Cannes gezeigt wurde, „8 1/2 Women“ (1999) bezog sich auf Fellinis Filmklassiker „Otto e Mezzo“ und erinnerte stilistisch kaum noch an seine früheren, ‚barocken‘ Werke, für die er bekannt wurde. Bereits in der Shakespeare-Adaption „Prospero’s Books“ (1991) verzichtete Greenaway auf eine klassische Erzähldramaturgie und setzte sowohl Animationen als auch Videoeffekte ein. Die mehrteilige Arbeit „The Tulse Luper Suitcases“ (2003-2005) enthielt zwar auch Filme, die jedoch nicht im Kino gezeigt wurden, war ein Multimedia Projekt mit CD-ROMs, DVDs, Bücher, TV-Episoden und Internetseiten.
Seine Abwendung vom Kino begründete Greenaway nicht nur mit neuen technischen Entwicklungen, sondern auch mit dem Zustand des Kinos allgemein: »Das Elend der Filmverleihbranche führt dazu, dass Sie oder ich nicht jeden Film unserer Wahl in jedem beliebigen Kino sehen können: weder heute Nachmittag noch nächste Woche oder nächsten Monat und wahrscheinlich niemals. Für mich ist es einfacher, ein unbedeutendes Gemälde von Caravaggio in einer kleinen umbrischen Stadt zu sehen als Kubricks 2001 in einem Kino, das diesen Film so zeigen würde, wie er konzipiert wurde.«
Er begann die Merkmale des Kinos als “tyrannies“ zu verstehen. Explizit nannte er vier ‚Tyranneien‘ oder ‚Zwangsjacken‘, nämlich die Begrenzungen des Films auf Bildrahmen (frames), Text, Schauspieler und Kamera. Hier wird (nebenbei) klar, dass der englische Begriff „cinema“ (ähnlich wie das französische ‚cinéma‘) in der deutschen Übertragung zu Missverständnissen führen kann. Einerseits spricht Greenaway die Qualität der Kinos an, andererseits bezieht er sich auf den traditionellen Kinofilm[3]
Leider verspricht Greenaways in seiner Überschrift „Toward a re-invention of cinema“ mehr als er halten kann. Auch übersieht er ein wesentliches Merkmal des Kinos, das von keiner Technologie übertroffen werden kann: Kino als soziale Kulturpraxis, zu der sich reale Menschen an einem realen Ort zu einer fixen Zeit begegnen. Greenaways Werk und die Beschäftigung späterer Autoren mit seinen Thesen geben aber wertvolle Anregungen.
Demnächst mehr zur Zukunft des Kinos an dieser Stelle …
[1] Am 28.09. 2003 in dem Essay „Cinema Militans Lecture – Toward a re-invention of cinema“ auf der (nicht mehr existierenden) Internetseite petergreenaway.org.uk/
[2] iDie Cinema Militans Lecture war eine jährliche Veranstaltung des Netherland Film Festivals in Utrecht. Die Reihe wurde nach einem 1929 veröffentlichten Essay des niederländischen Filmkritikers Menno ter Braak benannt, in dem er für eine ästhetische und kritische Sprache plädiert, die dem neuen Medium Film eigen ist und nicht anderen, älteren Kunstformen entlehnt wurde.
[3] In anderen Sprachen wäre ‚Kinofilm‘ ein Pleonasmus wie ‚weißer Schimmel‘