Während der Lockdowns konnten Kinobetriebe dank der Corona-Hilfen der Länder und vor allem dank des Zukunft-Kino-Programms des Bundes[1] ohne größere Blessuren überstehen. Nur wenige Häuser mussten schließen. Nun aber, in der Post-Lockdown-Zeit erreichen die Besucherzahlen aber nicht mehr, wie erhofft, das Niveau vor der Pandemie. Es steht zu befürchten, dass der jahrzehntelange Abwärtstrend (seit der Einführung des Farbfernsehens, der TV-Fernbedienung, der Videokassette, der DVD usw. u.s.f.) an trauriger Dynamik gewinnt.
Ein Grund ist sicherlich, dass Kinogänger im Lockdown gelernt haben sich bei Streamern mit Filmen (und anderem ‚Content‘) zu versorgen. Insofern wirkte die Pandemie als Beschleuniger einer Änderung des Medienkonsumverhaltens. Man hat die häusliche Bequemlichkeit auf dem Sofa schätzen gelernt. Heimkino-Anlagen werden immer perfekter und billiger. Große Bilddiagonalen ermöglichen in vielen Wohnzimmern eine bessere Filmrezeption als in manchem Schachtelkino. Aber auch die großen Leinwände leiden unter dem Wandel. Die für Multiplexe wichtigen jungen Altersgruppen betrachten Bewegtbilder fast nur noch auf dem Smartphone oder Tablet.
Zahlen und Fallbeispiele
Die Kinobesuche in Deutschland sind im Zeitraum 2012 bis 2019 von 132 Mio. auf 118 Mio. verkaufte Eintrittskarten gesunken. In den fünf Jahren davor um 8% (Quelle: FFA). Zwischen 2019 bis 2021 fielen die Besucherzahlen pandemie-bedingt um 35%[2] und im ersten Halbjahr 2022 trotz Aufhebung des Lockdowns sogar um 38,1%[3]. Die Ergebnisse für das Gesamtjahr werden erst in ein paar Wochen vorliegen. Die Branche hofft im zweiten Halbjahr auf Blockbuster wie „Minons“ und „Avatar – The Way of Water“. Ob letzterer aber die Erwartungen erfüllt, ist noch nicht ausgemacht. Selbst Regisseur James Cameron war vorsichtig und äußerte vor dem Start gegenüber dem Branchenmagazin Hollywood Reporter, er rechne nicht mit 100% Einspiel der Kosten ($350 Mio.): »But maybe 80 percent’s enough«. Falls das nicht gelingt, wird dies nachhaltig negative Folgen für die zukünftige Bereitschaft zur Produktion von Kinofilmen, die von der Kinowirtschaft gebraucht werden, haben. In 2021 rettete nur ein Film, der neue Bond „Keine Zeit zu sterben“, der inklusive Streaming das 2,8fache seiner Produktionskosten einspielte[4], die Kinos vor dem Absturz.
Die Folge der Entwicklungen könnten Kinoschließungen sein. Im Jahr 2022 sorgte die Insolvenz der Kinokette Cineworld für Schlagzeilen[5]. Die weltweite zweitgrößte Kinokette meldete im September ein Sanierungsverfahren nach Kapitel 11 im US-Insolvenzrecht an. Ziel war die Rettung einiger der 747 Cineworld-Kinos mit mehr als 9000 Leinwänden in zehn Ländern. Betroffen sind unter anderem die Marken Cineplex und die Regal-Kinos. Der Ausgang ist noch ungewiss. Auch andere, internationale Kinounternehmen sind unter Druck. So wurde, zum Beispiel, der Kinogigant Vue, der 2018 neben Cinemaxx auch die Cinestar-Gruppe kaufen wollte, von Gläubigern übernommen. Das australische Unternehmen Event Hospitality & Entertainment Limited, dem Cinestar gehört, hat angekündigt sich aus Deutschland zurückzuziehen und sich auf den australischen Entertainmentmarkt zu konzentrieren.
Silicon Valley hat Hollywood übernommen
Die einst mächtigen und stolzen Hollywoodstudios existieren nicht mehr. MGM wurde von Amazon gekauft. Paramount gehört ViacomCBS. Universal gehört Comcast. Der größte Teil von Warner Brothers’ (eine Marke von Time Warner Inc.) historischen Studiogelände am Sunset Boulevard ist heute von Netflix belegt. Umgekehrt wandeln sich auch Traditionsunternehmen der Filmwirtschaft und integrieren Streaming-Dienste in ihr Geschäftsmodell (wie z.B. Disney+). Warner Bros. entschied 2021 alle neue Produktionen gleichzeitig auf der Time-Warner-Plattform HBO Max zu veröffentlichen. „Glass Onion“ sollte in den USA wenigsten eine Woche lang eine Chance im Kino bekommen, doch Netflix entschied sich kurzfristig anders.
Steven Spielberg, dessen letzter Film „The Fabelmans“ (2022) nur kurz im Kino zu sehen war, sagte: »The pandemic created an opportunity for streaming platforms to raise their subscriptions to record-breaking levels and also throw some of my best filmmaker friends under the bus as their movies were unceremoniously not given theatrical releases.«[6]
Produktion: Nicht genügend (Blockbuster-)Filme für zu viele Leinwände
Um das Jahr 2000 haben die ehemals Big Six, jetzt Big Five nach der Fusion von Disney und Fox, also die sechs großen Hollywood Filmstudios mehr als 200 Kinofilme im Jahr herausgebracht. 2018 waren es nur wenig mehr als 100 Filme. Nicht nur die Zahl der produzierten Filme ist gesunken, sondern auch deren Vielfalt. Darunter waren kaum noch Independent-Filme, kaum Arthouse-Filme und kaum Filme im mittleren Feld der Unterhaltungsfilme.[7]
Der CEO der Kinokette AMC Entertainment, Adam Aron, wies Covid, Streamer und kurze Auswertungsfenster als reale Probleme für die Vorführung zurück und sagte, die größte Herausforderung für die Branche sei »vor allem, dass die Kinobetreiber mehr Filme brauchen« und »Die Zahl der Filme liegt immer noch 20-30% unter dem Niveau vor der Pandemie.«[8] Und die deutsche Filmwirtschaft konstatiert: »Die Anzahl der Kinopremieren ist mit 96 die mit Abstand niedrigste innerhalb der letzten 5 Jahre. Der Wert liegt 32% unter dem Durchschnitt der letzten 5 Jahre. Der Wert für 2022 ist in jedem Monat der niedrigste in der 5-Jahresbetrachtung.«[9]
Auch könnte die, von Medien-Entertainment und IT-Unternehmen dominierte Filmindustrie, sich weiter von einer Kinoauswertung abwenden und auch potentielle Blockbuster gleich online als Video-on-Demand starten. Bereits 2019 machten die Filmstudios weniger als 10 Prozent des Gewinns ihrer Muttergesellschaften aus. Die Kinoauswertung hat heute nur noch einen Anteil von 5% am Gesamtumsatz der Branche. Laut The Guardian[10] sind 2022 die meisten teuren Blockbuster-Versuche am Box Office in die Knie gegangen (‚tanked‘), wie zum Beispiel „Strange World“ von Disney und Sony’s Devotion (nur $9m Umsatz). Auch „Top Gun: Maverick“ (Produktionskosten $90m) startete vergleichsweise schwach. Alle Hoffnungen richten sich nun auf „Avatar“. Doch in der ersten Filmwoche im Jahr 2023 wurden insgesamt nur 74% des Umsatzes im gleichen Zeitraum von 2019 vor der Pandemie eingespielt.[11]
Erläuterung: Teure Großproduktionen sind für den gewerblichen Kinomarkt so wichtig, weil sie den Hauptanteil des Kinoumsatzes generieren. So haben, zum Beispiel, im ersten Halbjahr 2022 nur 10 Filme 55,8 % der verkauften Tickets ausgemacht (Quelle: FFA nach Meldungen der Verleihfirmen).
Auch andere, wichtige Player steigen aus der Kinofilmproduktion aus. Nicht nur auf dem deutschen Markt[12] ziehen sich die Fernsehsender aus TV-Kino-Koproduktionen zurück. So hat die ARD während der Pandemie ‚klammheimlich‘ das Budget für Kinofilme zugunsten von Serien und Mediathek-Streamings fast komplett umgewidmet. Den meisten ‚TV-Amphibienfilmen‘ werden Cinephile nicht nachweinen, doch es sei nicht vergessen, welche große Bedeutung zumindest einige Filmredaktionen der Öffentlich-Rechtlichen für die Independent-Filmlandschaft und Kinokultur hatten!
Mit einer brandaktuellen Studie schlägt in UK das British Film Institute Alarm: »Ein perfekter Sturm aus stagnierenden Produktionsbudgets, galoppierenden Kosten und sinkenden Einnahmen hat dazu geführt, dass der unabhängige Filmsektor im Vereinigten Königreich bis zum Marktversagen belastet ist (…) Wenn diese Bedrohungen nicht eingedämmt werden, werden wahrscheinlich Investitionen abgezogen und die Produzenten werden nicht mehr in der Lage sein, ihre kreative Risikobereitschaft aufrechtzuerhalten, was letztlich zu einer Zukunft führen würde, in der die volle Bandbreite und der Erfolg – und die Unabhängigkeit – des unabhängigen Films nicht mehr gegeben sind.«[13]
Filmverleiher leiden
Auch die kleinen und mittleren Verleiher von Arthouse-Filmen leiden unter der Situation. »Die erfolgreichsten Arthousefilme der letzten 12 Monate, „Nomadland“ und „Der Rausch“, erreichten keine 500.000 Besucher (…) Darüber hinaus hat kein einziger Arthousefilm außer „The Father“ in dieser Zeitspanne mehr als 200.000 Besucher erreicht. Die einzigen beiden deutschen Arthousefilme, die mehr als 100.000 Besucher erzielen konnte, sind „Schachvolle“ sowie „Die Unbeugsamen“. Die Besucherzahlen sind auf einem so geringen Niveau, dass das Überleben vieler unabhängiger Verleiher inzwischen mehr als fraglich ist.«[14] Zusätzlich schaden die immer kürzer werdenden Auswertungsfenstern für Filme im Kino.
… und jetzt auch noch steigende Energiekosten und Inflation
Verstärkt werden diese für die Kinowirtschaft ungünstigen Tendenzen noch durch aktuell ungünstige ökonomische Entwicklungen wie hohe Energiekosten, aber auch höhere Personalkosten. Anders als früher können steigende Kosten auch nicht durch ‚Preiselastizität‘ ausgeglichen werden. Denn die aktuelle Inflation wirkt sich auf den Geldbeutel der potentiellen KinozuschauerInnen aus.
In „Quo vadis Kino? Wirtschaftliche Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf den deutschen Kinomarkt“, konstatiert Helmut Hartung deshalb zu Recht: »Somit kommt der Druck auf die Kinos derzeit von allen Seiten«.[15]
Während die Zukunft des Mainstream-Kinosegments weitgehend von millionenschweren Vermarktungsstrategien, der Erweiterung des Programmangebots um Alternativ-Content und der letztendlichen Ausgestaltung des Medien-Oligopols abhängig sein wird, sieht Elisa Alvares, Mitglied der Expertenrunde des Nostradamus Report 2022, auf das Arthouse-Kino noch schwierigere Zeiten zukommen: »This is not my preferred outcome, but I honestly don’t think there is a sustainable model that would justify the costs of a theatrical release in the future, for arthouse films, as a first window, in the way we have been used to.«[16]
Während sich die wirtschaftliche Auswertung von Film im Kino im freien Fall befindet, steigen die Besucherzahlen im Bereich der nicht-gewerblichen Filmkultur (Kommunale Kinos, Filmclubs, Museen, Ausstellungen). Einer Erhebung der FFA von 2021 zufolge ist der nicht gewinnorientierte, „alternative“ Bereich der Filmauswertung stark angewachsen.
Lichtblicke gibt es also! Und wir selbst, das CinéMayence, hatten im Herbst 2022 gegen den kinowirtschaftlichen Trend mehr Zuschauer als vor der Pandemie. Wir führen diese auf einen zunehmenden Bedarf an Qualitätsangeboten, an kultureller Filmvermittlung und zivilgesellschaftlicher Partizipationsangeboten in Kinos als öffentlichem Raum zurück.
Steht eine Musealisierung der Kulturpraxis Kino bevor?
Doch langfristig stehen nicht nur Multiplexe und Arthouse-Kinos unter Druck. Denn, wie die jüngste, renommierte, Sandvine-Studie über globale Internet-Phänomene zeigt, bleibt die Internet-Videonutzung auch unter Bedingungen des ’new normal‘ auf hohem Niveau.[17] Man könnte meinen, ein Niedergang der Blockbuster-Auswertung und der Produktion von mittelmäßigen, noch nicht einmal erfolgreichen, Unterhaltungsfilmen schade nicht. Doch das ist vielleicht ein Trugschluß, insofern auch größere Studios immer wieder Independent-Filme mitproduziert haben und ins Kino brachten – und sei es nur, um auf Festivals Lorbeeren zu verdienen oder eine Oscar-Nominierung zu ermöglichen.
Auch die Zukunft des kulturellen Kinos mit künstlerisch relevanten Filmen wird also von einem wohlüberlegten Strukturwandel und Umdenken bisheriger Konzepte abhängen.
[1] Mit insgesamt bis zu 65 Millionen Euro aus dem Programm „Neustart Kultur“ fördert die Bundesregierung pandemiebedingte Maßnahmen zur Unterstützung der Kinobranche. Für das Zukunftsprogramm Kino I für Arthouse-Kinos und Kinos im ländlichen Raum stehen im Jahr 2021 allein 30 Millionen Euro zur Verfügung. (HDF) Aus dem Zukunftsprogramm Kino flossen zwischen 2020 bis 2022 ca. 5 1/2 Millionen Euro an Kinos in Rheinland-Pfalz. 2022 zusätzlich aus der Kinoförderung für Modernisierungen 102.323€ an das Cinestar Mainz.
[2] Kinomarkt-Entwicklung vor und während der Pandemie
2019 | 2020 | 2021 | |
Besuch in Mio | 118,6 | 38,1 | 42,1 |
Ticketumsatz in Mio. € | 1024,00 | 318,00 | 373,2 |
Besuch % | 100% | 32% | 35% |
Umsatz % | 100% | 31% | 36% |
[3] „Kino- und Filmergebnisse Januar bis Juni 2022“, FFA
[4] https://www.jamesbond.de/einspielergebnisse/
[5] siehe u.a.: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/kinokette-cineworld-meldet-insolvenz-in-den-usa-an/28666422.html
[6] Steven Spielberg, 11-2022, New York Times/nofilmschool.com
[7] Rückkehr ins Kino? Streamer mischen die Filmindustrie auf und verteilen die Karten neu
Analyse Reinhard W. Wolf 4. September 2019, https://www.shortfilm.de/rueckkehr-ins-kino-streamer-mischen-die-filmindustrie-auf-und-verteilen-die-karten-neu/
[8] Jill Goldsmith, Deadline, 11/2022 https://deadline.com/2022/11/amc-entertainment-earnings-box-office-1235166938/
[9] 3. Vierteljahresbericht 2022, SPIO Spitzenorganisation der Filmwirtschaft Abteilung für Statistik und Marktforschung, 05.10.2022
[10] „Box Office Blues – why are so many films bombing this season?“, The Guardian, 2.12.2022
[11] „Where Are We as of 1/12“, DICK WALSH’s Industry Update, Screen Dollars Jan 15, 2023
[12] TV NRK Drama impacted by Norwegian pubcaster’s NOK 300m budget cut for 2023
[13] warnt BFI chief executive Ben Roberts im Vorwort des Reports
[14] www.ag-verleih.de (FFG Stellungnahme vom 10.05.22)
[15] https://www.medienpolitik.net/2022/07/quo-vadis-kino-nach-corona/
[16] Elisa Alvares, zitiert nach Johanna Koljonen, Nostradamus Report: Transforming Storytelling Together, Göteborg Film Festival 2021, www.goteborgfilmfestival.se
[17] »Among Sandvine’s findings, video usage grew 24% in 2022, now equating to 65% of all internet traffic. For the first time, Netflix replaced YouTube as the individual app generating the most traffic, with TikTok, Disney+, and Hulu among the top-10 generating the most traffic volume.« (Sandvine, Press Release, Jan 20, 2023)