Found-Footage-Film

Einführung Found-Footage-Film

„Fountain“ von Marcel Duchamp, 2017 (Foto von Alfred Stieglitz, gemeinfrei)

Der Begriff „found footage“ entstand in Anlehnung an die Begriffe „object trouvé“ und „ready made“ in der Bildenden Kunst. Mit diesen verbinden sich Strategien der Surrealisten und Dadaisten, die Gegenstände – meist Alltagsgegenstände industrieller Fertigung – dem Kontext entrissen und in einem anderen (Kunst-)Kontext neue Bedeutung gegeben haben. Genauer gesagt: Durch die Gegenüberstellung von Objekten, die allgemein nicht als Kunstwerke gelten, mit anerkannten Kunstwerken in einem Ausstellungskontext wurde die Rolle und Definition von Kunst auf einer Meta-Ebene hinterfragt. Bekannte Beispiele sind Marcel Duchamps Pissoir „Fountain“ (1917), das als das erste „ready made“ gilt, oder – aus der jüngeren Kunstgeschichte – Andy Warhol’s Waschmittelkartons.

Mit Found-Footage-Film bezeichnet man Filme, die teilweise oder vollständig aus „gefundenen Filmaufnahmen“ bestehen. Das Material kann tatsächlich gefunden, zufällig entdeckt, aber auch bewusst für einen bestimmten Zweck gesucht und ausgewählt sein. Found-Footage-Filme entstehen also aus bereits belichtetem Material. In der Regel handelt es sich dabei um fremdes Material, das vom Autoren eines Found-Footage-Film nicht selbst aufgenommen wurde. In Ausnahmefällen werden aber auch Filme, die aus Material des Autoren bestehen, als Found-Footage-Film bezeichnet, insofern auf ein eigenes Archiv mit Aufnahmen zurückgegriffen wird und dieses Material für einen anderen Zweck aufgenommen wurde. Die häufigsten Materialquellen für Found-Footage-Filme sind Filmarchive, Filmsammlungen, Zufallsfunde (zum Beispiel Filme von Tauschbörsen) sowie Mitschnitte von Fernsehsendungen und neuerdings Filmangebote im Internet (streamings).


Frühgeschichte des Found-Footage-Films

"Fake"-Blitz in Méliès' Film über die Affäre Dreyfus
Standbild aus Méliès‘ Dokudrama-Serie über die Affäre Dreyfus in Studiokulisse

Das erste bekannte Beispiel stammt bereits aus dem Jahr 1899. Georges Méliès drehte den Mehrteiler – heute würde man Mini-Serie sagen – L’Affaire Dreyfus. Um eine Episode der Dreyfus-Affäre zu illustrieren, von der es keine Aufnahmen gab, griff Méliès auf „found footage“ zurück: er kombinierte historisch unzusammenhängende Aufnahmen einer Militärparade, einer Straße in Paris, einer Barkasse auf der Fahrt zu einem Schiff und Aufnahmen aus dem Nil-Delta, um die Abschiebung und Verbannung von Alfred Dreyfus zu zeigen.

Die Aufführung des Dokudramas „L’Affaire Dreyfus“ provozierte so viel Unruhe und Schlägereien, dass der Film (bis 1974) verboten wurde. Dieses frühe Beispiel zeigt bereits die Problematik der Bearbeitung und Wiederverwendung von Bildern in anderen Kontexten bezüglich des Wahrheitsanspruches filmischer Abbildungen, besonders, wenn es um kontroverse Themen (hier Schuld oder Unschuld eines politischen Akteurs) geht. Der Film ist zugleich vielleicht das erste Dokudrama der Filmgeschichte, gedreht von einem Regisseur, der eigentlich als Pionier des fiktionalen Films gilt (im Unterschied zu den Brüdern Lumières), hier aber im Dienst der Sache zugunsten von Dreyfus auf der Seite von Zola, seinen Prinzipien untreu wurde und zumindest semi-dokumentarisch arbeitete.


Systematik des Found-Footage-Films – drei Spielarten

In Anlehnung an den Filmhistoriker und Filmwissenschaftler William C. Wees lassen sich drei Arten des Found-Footage-Film unterscheiden: Die Kompilation, die Collage und die Aneignung. Diese drei Methoden, die sich allerdings überschneiden können, korrespondieren erstens mit typischen Filmgattungen, zweitens mit ästhetischen Tendenzen und drittens bei der Herstellung von Bedeutung mit spezifischen Beziehungen zwischen dem Bezeichnenden (Signifikat) und dem Bezeichneten (Signifikant). So läßt sich ein vereinfachtes, aber übersichtliches Modell erstellen. Die folgende Tabelle illustriert die Unterscheidungen dieses Modells.

MethodeReferenztypische GattungKunsttendenz
KompilationRealitätDokumentarfilmRealismus
CollageBilderAvantgardefilmModernismus
AneignungSimulacrumVideokunstPostmodernismus
Vorbild: Recycled Images, William C. Wees, Anthology Film Archives, New York 1993

Die drei Spielarten des Found-Footage-Films werden im Folgenden einzeln erörtert und anhand von typischen Filmbeispielen dargestellt. Der Schwerpunkt liegt bei den beiden Methoden, die besonders für Selbstreflexion des Mediums Film geeignet sind: der Collage und der Aneignung*. Der Kompilationsfilm wird nur kurz behandelt.

*Collage und Aneignung abstrahieren von den vorgefundenen, scheinbar in die Bilder eingeschriebenen Bedeutungen, indem sie eine Meta-Ebene aufbauen, von der aus neue, bereits latent vorhandene Bedeutung sichtbar gemacht oder völlig andere Bedeutungen produziert werden. Denn, wie Guy Debord erklärt, jedes Bild kann dazu verwendet werden eine andere Bedeutung als die beabsichtigte, ja sogar eine gegenteilige Bedeutung hervorzurufen.