Einführung – Kompilationsfilm
Kompilationsfilme sind Found-Footage-Filme, die aus bereits gedrehtem Filmmaterial – oft Nachrichtenmaterial – bestehen, und ein aufklärerisches Interesse haben oder ein historisch-wissenschaftliches Ziel verfolgen.
Der Begriff Kompilationsfilm wurde von dem amerikanischen Filmhistoriker Jay Leyda eingeführt. Er versteht darunter Filme, die aus visuellen Zitaten kompiliert wurden. Für Leyda kommen dabei vor allem Filme in Betracht, die mit Archivbildern arbeiten. Die Kompilation ist nach Leyda durch den Einsatz folgender filmischen Mittel charakterisiert, »Alle Mittel, die den Zuschauer zwingen, vertraute Bilder so anzuschauen, als ob er sie nie zuvor gesehen hätte, oder, die beim Zuschauer Verständnis für die tieferen Bedeutungen alten Materials wecken – das ist das Ziel der korrekten Kompilation.« (Jay Leyda, Films beget films – Filme aus Filmen, New York: Hill and Wang, 1971)
Kompilationsfilme können auch nicht-dokumentarische Quellen verwenden. Historische Beispiele, die aus Spielfilmen kompiliert wurden, sind „That’s Entertainment“ oder „The Legend of Marilyn Monroe“ des amerikanischen Regisseurs Jack Haley jr. oder sogenannte „Video-Essays“, die Filmausschnitte zu einem filmkritischen Beitrag verarbeiten. Ein Sonderfall des Kompilationsfilms sind „Fakes“, die authentisches Material nicht-authentisch verwenden, oder gefälschte Aufnahmen als authentisches Material vermitteln.
Kompilationsfilm The Atomic Cafe
The Atomic Café, Archives Project (Kevin Rafferty, Jayne Loader, and Pierce Rafferty), USA 1982, 35mm, 88 Min. / Weltvertrieb (neu digitalisierte Fassung als DCP und BluRay): Kino Lorber
Der Film The Atomic Cafe dokumentiert das Eintreten der USA in das Zeitalter der Atombombe („Atomic Age“) von den ersten Atombombentests in New Mexico (1945), dem Abwurf der Bombe auf Hiroshima, über die atomare Aufrüstung der 50er Jahre und den Kalten Krieg, bis zu den Atomtests auf dem Bikiniatoll und der Zeit der Politik der atomaren Abschreckung. The Atomic Cafe wurde in der Zeit der Anti-Atom-Bewegungen veröffentlicht und kam nach internationalen Festivalerfolgen weltweit in die Kinos.
The Atomic Cafe ist auf der Meta-Ebene zugleich auch ein Film über Propaganda- und Erziehungsfilme. In der Vorbereitungsphase haben die Autoren fünf Jahre recherchiert und dabei mehr als 10.000 Archivfilme gesichtet. Das Material stammt ausschließlich aus Archiven – überwiegend sind es Dokumentar-, Lehr- und Erziehungsfilme aus Militär- und Regierungsarchiven. Für Atomic Cafe wurde kein Meter Film neu belichtet.
Neben der Entscheidung ausschließlich Archivmaterial zu verwenden, wurde die Form des Films wesentlich von einer bestimmten künstlerischen Strategie bestimmt. Co-Regisseurin Jayne Loader äußerte sich dazu wie folgt: »Wir entschieden uns für ein zweites Prinzip: wir würden die Methoden des Cinéma Verité auf unser Material anwenden, d.h., das Material für sich selbst sprechen zu lassen. Kein zusätzlicher Kommentar sollte verwendet und die Erzählperspektive sollte (nur) in der Montage entwickelt werden« [Loader 1995]. Dies bedeutet, dass die Autoren sehr bewusst mit widersprüchlichen Positionen der Filmtheorie über den Abbildcharakter dokumentarischer Bilder umgingen. Einerseits setzten sie auf die Position unverfälschter Authentizität (Cinéma Verité), aber andererseits gestalteten sie das Material in der Montage so, dass ihr eigener Standpunkt zur Thematik zum Ausdruck kam.