Zusammenfassung und Interpretation
Die Zeitangaben auf den Zwischentiteln täuschen eine Chronologie der Ereignisse nur vor, da sie im Widerspruch zur tatsächlichen filmischen Erzählung stehen, die keine konsistente Zeitstruktur hat. Buñuels Zeitkonzeption kennt keine kausal-chronologischen Gesetze. Dies ist im Übrigen ein Merkmal des Surrealismus (vgl. die weichen Uhren im Gemälde La Persistencia da Memoria von Dalí).
»Die weichen Uhren sind nichts anderes als der kritisch-paranoide Camembert aus Zeit und Raum« sagte Salvador Dalí über sein Gemälde La Persistencia da Memoria [1931]
In Un chien andalou verweist Buñuel auf einer metafilmischen Ebene auf eine Norm im Umgang mit Zeit im Film, die in den meisten Filmen befolgt und deshalb vom Zuschauer erwartet wird. Nach dem Kriterium der Norm sind die Zwischentitel in Un chien andalou falsch gesetzt und verletzten sämtliche Regeln der Konstruktion von Filmzeit. Erst die Abweichung von der Norm schärft das Bewusstsein des Zuschauers für die Existenz dieser filmischen Regeln. Buñuel ist dabei so geschickt, dass er diese Regeln nicht einfach nur umkehrt oder auf den Kopf stellt (was sie indirekt wieder bestätigen könnte). Dies erreicht er, indem er Elemente einfügt, die vorübergehend die Erwartungen doch erfüllen und ein Verstehen nach der Norm bestätigen, wie das Beispiel der Verwendung von Zeitlupe nach der Ankündigung »sechzehn Jahre später« zeigt. Dieses Spiel mit den Erwartungen der Zuschauer ist auch in anderer, inhaltlicher Beziehung charakteristisch für Buñuels Film. In Un chien andalou macht Buñuel nicht nur eine metamediale Aussage, die sich mit dem Verweis auf die Existenz von Regeln begnügt. Jenseits der Regelverletzung liefert Buñuel zugleich ein überzeugendes Beispiel für einen anderen Umgang mit den filmischen Mitteln, der geeignet ist dem Medium völlig neue Dimensionen zu eröffnen.
Anmerkung: Un chien andalou zeigt Möglichkeiten der Behandlung von Zeit und Raum die bahnbrechend für spätere Entwicklungen des non-linearen Films (z.B. bei David Lynch) waren und Modellcharakter für die Gestaltung von Hypermedien haben.
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