Aufhebung der Realzeit
Un chien andalou hat keine konsistente Zeitstruktur, die sich wie etwa im Dokumentarfilm an der Realzeit oder im Spielfilm an eine filmimmanente Erzählzeit hält. Vielmehr wird eine scheinbare Chronologie der Ereignisse nur behauptet, die ausschließlich durch Zwischentitel angekündigt wird. Hier die Texttafeln in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Film:
- Titel 1: »Il était une fois …« (Es war einmal …)
- Titel 2: »Huit ans après.« (Acht Jahre später)
- Titel 3: »Vers trois heures du matin« (Gegen drei Uhr morgens)
- Titel 4: »Seize ans avant.« (Sechzehn Jahre vorher)
- Titel 5: »au printemps.« (Im Frühling)
- Titel 6: »Fin« (Ende)
Die erste Texttafel im Film enthält genau genommen keine Zeitangabe außer dem Hinweis, dass die Ereignisse der Vergangenheit angehören. Vielmehr signalisiert diese Phrase mit ihrer Wirklichkeitsbehauptung (»es war«) genau das Gegenteil: es ist die typische Einleitung zu einem Märchen. Dieser Texttafel folgt der Prolog, der mit dem nächsten Zwischentitel endet.
Der zweite Zwischentitel markiert formal den Beginn der eigentlichen Filmerzählung. Allerdings hat die hier sprachlich sehr konkrete Angabe – »acht Jahre später« – keinen zeitlichen Anker, da das Jahr Null nicht definiert wurde. Dem Zuschauer wird mit dieser Angabe eine kontinuierliche Erzählung suggeriert.
Der dritte Titel gibt im Unterschied zu allen anderen Zeitangaben plötzlich einen Zeitpunkt an: »gegen drei Uhr morgens«. Damit wechselt der Skalierungsmaßstab von den großzügigen Zeitbemessungen in Jahren auch zu einer vergleichsweise deutlich kleineren Zeiteinheit (Stunde). Es entsteht der Eindruck einer konkreten Nähe zu den Ereignissen. Die darauffolgende Szene führt einen neuen Protagonisten in den Film ein, der die zuvor gezeigte Wohnung betritt und den darin befindlichen Mann maßregelt und bestraft, indem er sich an die Wand stellen muss. Diese Sequenz dauert nur wenig mehr als eine Minute und wird vom nächsten Zwischentitel – »sechzehn Jahre vorher« – beendet beziehungsweise unterbrochen.
Der vierte Zwischentitel (»Sechzehn Jahre vorher«) kündigt einen Zeitsprung an, der unter Berücksichtigung der früheren Zeitangaben weit vor Beginn der Filmerzählung liegen müsste. Die darauffolgende Szene zeigt aber denselben Raum und dieselben Personen in derselben Kleidung wie in den Szenen vor dem Zeitrücksprung. Die Szene beginnt mit kurzer Überlappung zur vergehenden Szene. Der bestrafte Mann steht immer noch an der Wand.
Diese Widersprüchlichkeit in der filmischen Erzählung wird aber insofern relativiert als die erste Szene in der Zeit vor sechzehn Jahren in Zeitlupe gedreht ist. Da Zeitlupen normalerweise auch eingesetzt werden, um Träume oder Erinnerungen der Protagonisten zu kennzeichnen, entsteht der Eindruck einer gewissen Übereinstimmung mit der Zeitangabe des Zwischentitels. Doch, während die Zeitlupe abrupt beginnt, bleibt der Rücksprung in die Normalzeit undeutlich. Da mit der Rückkehr in die erzählerische Gegenwart – wie bei dem vorherigen Wechsel – Personen und Gegenstände wieder unverändert bleiben, wird die angekündigte zeitliche Verankerung noch einmal durchbrochen. Die geweckte Erwartung des Zuschauers an eine Einheit von Zeit und Ort in diesem Film ist damit endgültig enttäuscht. Diese enttäuschte Erwartung greift Buñuel in einer der folgenden Szenen parodistisch auf: In der Strandszene des Films läuft die junge Frau auf den Mann zu. Dieser zeigt ihr vorwurfsvoll seine Armbanduhr und bedeutet ihr damit: »Du bist zu spät!«
Der fünfte und letzte Zwischentitel des Film – »au printemps/im Frühling« – leitet das nur 10 Sekunden lange Schlussbild des Films ein. Da sich in der vorausgegangenen Szene Mann und Frau am Strand finden, umarmen und küssen, vermittelt dieser Zwischentitel in seiner blumigen Schrift – im typografischen Stil des gleichnamigen Kaufhauses (!) – den Eindruck, mit Frühling sei im übertragenen Sinne ein nun beginnender glücklicher Abschnitt im Zusammenleben der Protagonisten gemeint. Insofern hat der Schlusstitel analog zum Anfangstitel »es war einmal« neben der Zeitangabe eine eher symbolisch erzählerische Funktion. Das Schlussbild selbst straft diese Erwartung jedoch Lügen: statt einen blühenden Frühling ihrer Beziehung zu erleben, ist das Liebespaar bis zum Kopf in Wüstensand eingegraben und verwest unter glühender Sonne …