Zeit im surrealistischen Film: Un chien andalou

Assoziationsmontage: Der berühmte Prolog

Einstellungsbeschreibung
  • Titel: Il était une fois … (Es war einmal …)
  • Nahaufnahme: Zwei Hände schärfen ein Rasiermesser
  • Nah: Kopf eines Manns (Luis Buñuel) vor einer Balkontür, rauchend
  • Nah (wie oben): Daumen fährt über die Klinge und prüfte die Schärfe des Messers
  • Halbnah: Oberkörper des Mannes aus leicht anderer Perspektive
  • Halbtotale (amerikanisch): Der Mann öffnet die Tür und tritt auf einen Balkon (Nacht).
  • Halbtotale (Umschnitt): Mann auf dem Balkon lehnt sich an die Balustrade und schaut in den Himmel (Mondlicht).
  • Halbnah: Mann schaut zum Mond
  • Totale: Nachthimmel mit Mond. Ein schmales Wolkenband
  • Halbnah: Mann schaut gedankenvoll in den Himmel und raucht
  • Blende/Nah: Das Gesicht einer Frau. Eine Hand weitet mit Daumen und Zeigefinger ihr linkes Augenlid. Eine andere Hand – mit der Rasierklinge – kommt ins Bild (an der Kleidung erkennt man, dass es der bereits eingeführte Mann ist).
  • Halbtotale: Das schmale Wolkenband schiebt sich vor den Mond
  • Detail: Die Rasierklinge schneidet durch einen Augapfel. Das Auge läuft aus.
Analyse

Der Prolog von Un chien andalou besteht im Wesentlichen aus zwei unabhängigen Sequenzen: in Sequenz 1 schärfen Männerhände ein Rasiermesser und halten dieses vor das Auge einer Frau. Sequenz 2 zeigt ein schmales Wolkenband, das sich vor den Mond schiebt und diesen teilt. Die beiden Sequenzen haben keinen erkennbaren äußeren Zusammenhang. Sie werden erst durch die Montage aufeinander bezogen. Die hier angewandte Montage-Methode wurde erstmals von Eisenstein in Streik erprobt (Aufnahmen toter Tiere im Schlachthof / erschossene streikende Arbeiter) und ist längst zur Konvention geworden. Das Verfahren wird auch filmische Metapher genannt, obwohl zweifelhaft ist, ob Film –wie Sprache – Metaphern bilden kann. Metaphern, wie auch die hier eingesetzte Assoziationsmontage, beruhen auf einem abgekürzten Vergleich, bei dem das verbindende dritte Element (tertium comparationes) nicht explizit genannt oder ausgeführt wird. Die Bedeutung entsteht vielmehr durch „Übertragung“ (das Wolkenband teilt den Mond, also: das Auge wird zerschnitten). Buñuel bricht auf überraschende und schockierende Weise mit dieser Konvention, indem er den Vergleich drastisch ausführt: In der dritten Sequenz des Prologs zeigt er das Messer, wie es ein Auge zerschneidet. Damit macht Buñuel dem Zuschauer den Kunstgriff der Assoziationsmontage bewusst, das heißt er trifft eine metafilmische Aussage. Schließlich wirft er auch noch Fragen der Glaubwürdigkeit filmischer Abbildung auf (war das Auge echt?)

Kommentar

Eine weitere metafilmische Ebene eröffnet sich, wenn man den Prolog nicht nur für sich, sondern im Kontext des ganzen Films betrachtet. Zunächst fällt auf, dass die Bildmotive und Elemente des Prologs später im Film nicht mehr aufgegriffen werden und keine narrative Funktion – etwa als Exposé – haben. Man kann den Prolog vielmehr als Warnung vor dem folgenden Film und als Kommentar seiner Intention verstehen. Insbesondere, da der Mann mit dem Rasiermesser Buñuel selbst ist, kann man den Schnitt durch das Auge als Attacke auf das Auge des Zuschauers verstehen. Buñuel warnt: in Un chien andalou werden Sehgewohnheiten zerstört! Und die einleitende Texttafel (»Es war einmal ...«) ist ein gerade zu parodistischer Kommentar auf die narrativen Konventionen im Film, die der Surrealismus als nicht mehr zeitgemäß ablehnt.