Raum im surrealistischen Film: Maya Deren

Der Prolog von „Meshes of the Afternoon“ – eine Einordnung

Im Prolog sind bereits alle Bildmotive und Elemente enthalten, die später im Film eine Rolle spielen: ein steiler, von einer Wand begrenzter Weg, eine Blume in voller Blüte, ein Schlüssel, ein Wohnhaus, eine Treppe, ein Lehnstuhl, ein Messer und eine dunkle schemenhafte Kapuzengestalt ohne Gesicht. Nur eines ist nicht zu sehen: die Protagonistin des Films. Sie ist im Prolog nur als Schatten oder in Nahaufnahmen der Füße und Hände repräsentiert. Erst am Ende des Prologs wird mit einer Naheinstellung ihres Auges ein Teil ihres Gesichts ins Bild gerückt.

Die Bildmotive selbst und ihre Stimmung erinnern, trotz der irritierenden und geheimnisvollen Montage, an Melodramen und Schauerfilme der 40er Jahre: Filme in denen, junge Frauen Männer heiraten, die sie nicht wirklich kennen und von denen sie in Häuser gebracht werden, deren Geheimnisse sie bedrohen. Auch die Zwiespältigkeit des Gefühls zwischen Sicherheit im vertrautem Heim (Deren’s eigenes Haus) und Ausgeliefertsein in einer klaustrophobisch engen Isolation wird angedeutet. Doch im Unterschied zum typischen Genrefilm gibt es keine logische Handlungsfolge und keine eindeutige Außensicht auf die geheimnisvollen Ereignisse, wie sie für den männlichen Blick der Hollywood-Genrefilme typisch sind. Vielmehr ist der Prolog, wie der ganze Film, geprägt von einer radikal subjektiven Sicht, deren Träger und Zentrum die Protagonistin, also eine Frau, ist.

Der Prolog von Meshes of the Afternoon ein metafilmischer Kommentar der Hauptdarstellerin und Filmemacherin Maya Deren, die hier ein individuell-subjektives Kino propagiert, das seine Wirklichkeitstreue weder aus der Aufzeichnung des „Realen“ noch aus der Imitation einer kausalen Logik narrativer Handlungen bezieht. Vielmehr propagiert Deren »den schöpferischen Eingriff, (der) seine Wirklichkeitstreue durch die Identität der Person gewährleistet, die als durchgehende, einende Kraft die verschiedenen Zeiten und Orte durchzieht« (Deren: Creative Use, a.a.O.).

In sieben Schritten durch fünf Räume

Gegen Ende des Films hat sich die im Prolog eingeführte Person (Maya Deren) durch Spiegelungen und Reflektionen ihrer selbst verdreifacht. Auch Derens damaliger Lebenspartner Alexander Hackenschmied erscheint doppelt: als liebevoller Freund und als bedrohlicher Mann. Deren führt die verschiedenen Materialisierungen derselben Person durch zwei von ihr perfektionierte Aufnahme- und Montagemethode nahtlos in das widersprüchliche, raumzeitliche Kontinuum des Films ein. Es ist das Prinzip des In-Handlung-Schneidens (»cutting into action«) und die Methode des Kreuzschnitts (»intercut«).

Nach der Szene der drei Frauen am Tisch bricht eine der Frauen aus der Situation aus. Sie nimmt den Schlüssel, der sich in ihrer Hand in ein Messer verwandelt und bricht auf. In die Rolle der bedrohlichen Figur verwandelt, durchschreitet sie dann in nur sieben Schritten fünf verschiedene Orte (Strand, Acker, Straße etc.) um letztlich ins gleiche Zimmer, von dem sie aufgebrochen ist, zurückzukehren und vor sich selbst zu stehen!

Durch Beibehaltung der zeitlichen Kontinuität in der Kamerabewegung und dem „cutting into action“ werden die disparaten Räume miteinander verschmolzen und erhalten eine film-räumliche Kontinuität, die im Widerspruch zur Kontinuität realer Räume steht.


Deren beschreibt ihre Methoden in einer Anleitung für einen Filmkurs wie folgt: »Man kann die zwingende Kontinuität der Dauer nicht genug schätzen, die eine über die Klebestelle (»splice«) hinaus verlängerte Bewegung erzeugt. Eine Voraussetzung für dieses Verfahren ist offensichtlich ein konsequenter Umgang mit Tempo oder Rhythmus der Bewegung. Aber sobald diese erreicht ist und sorgfältig kinematografisch zugespitzt wird (Blickwinkel, Licht etc.), kann sie dazu benutzt werden, Orte zusammenzuhalten, die in der Wirklichkeit vollständig getrennt sind« (…)

Zitatquelle: Deren, Maya (1947): »Creative Cutting«, in: www.theorie-der-medien.de, übersetzt von Saskia Reither und Jens Schröter


Filmtheoretische Einordnung

Mit Meshes demonstriert Maya Deren eine potentielle Eigenschaft des Kinos, die sie als Vertikalität bezeichnet hat. Vertikalität stellt Deren in Gegensatz zur Horizontalität des Mainstream-Kinos, in dem ein Plot linear – entlang eines Erzählhorizonts – entwickelt wird. Vertikalität entsteht in Meshes durch das besondere Verhältnis von filmischer Zeit und filmischen Raum. Der filmische Raum in Meshes scheint zunächst als konkreter Ort lokalisierbar zu sein: Schauplatz ist ein Haus auf einem Hügel. Doch so, wie die Elemente dieses Ortes (Zimmer, Treppen, Weg, Umgebung) ineinander verwoben werden, erscheinen sie in einer zeitlichen und nicht in einer räumlichen Ausdehnung. Das, was zwischen dem Prolog des Films und seinem Ende, passiert, ist eine ausführliche Darstellung dessen, was im Prolog geschieht. Es sind die Gedanken der Protagonistin, die sie beim Nähern und Betreten des Hauses hat. Diese innere Reflektion der Protagonistin ist nur ein kurzer Moment, der filmzeitlich „vertikal“ ausgedehnt wurde.

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