Raum im surrealistischen Film: Maya Deren

Meshes of the Afternoon

Realisation zusammen mit Alexander Hackenschmied (aka Hammid), 16mm, sw, 13 Min, USA 1943, Drehzeit: 2 Wochen, Herstellungskosten: $274,90, Vertonung 1959 von Teiji Ito

„Meshes of the Afternoon“ Trailer von RE:VOIR

Bezugs- und Sichtungsquellen: Light Cone (16mm); RE:VOIR (DVD); YouTube (4K)


Inhalt

Beschreibung von Maya Deren: »Dieser Film beschäftigt sich mit den inneren Erfahrungen eines Individuums. Er zeichnet kein Ereignis auf, das von anderen Personen bezeugt werden könnte. Vielmehr reproduziert er auf welche Weise das Unterbewusstsein einer Person ein offenbar einfaches und zufälliges Ereignis in eine kritische emotionale Erfahrung entwickelt, interpretiert und entfaltet. Das Ereignis könnte jedem widerfahren: Ein Mädchen, auf ihrem Weg zum Haus einer anderen Person, findet auf der Straße eine Blume und nimmt sie mit. Sie kommt am Haus an, (dabei sieht sie für eine kurze Sekunde eine Figur in der Kurve der nahen Straße verschwinden), geht zur Tür und findet sie verschlossen. Sie nimmt ihren eigenen Schlüssel heraus, der ihr aus der Hand rutscht und die Außentreppe hinunterfällt, so dass sie gezwungen ist hinunterzulaufen und die Stufen noch einmal hochzusteigen, bevor sie das Haus betritt. Sie durchläuft die Zimmer auf der Suche nach der Person, die da sein sollte, aber trotz des noch laufenden Plattenspielers, des Telefonhörers neben der Gabel und anderer Gegenstände, die darauf hinweisen, dass gerade jemand da gewesen ist, ist das Haus leer und sie lässt sich am Fenster nieder, um zu warten.

Beitragsbild Maya Deren in MESHES OF THE AFTERNOON
Maya Deren in MESHES OF THE AFTERNOON ©©
Die in New York entstandene bekannteste Aufnahme von Maya Deren – von Kameramann und Freund Alexander Hackenschmied fotografiert – war ursprünglich nicht für MESHES (in Hollywood gedreht) vorgesehen. Beide nannten es das „Botticelli-Picture“.

Wartend schläft sie ein und in ihrem Traum beginnt sich das Erlebnis, das sie gerade hatte, zu wiederholen, jedes Mal jedoch in einer fremden und anderen Art. Jetzt ist es eine große Frau in schwarz, mit einem Spiegelgesicht, die um die Kurve der Straße verschwindet. Sie trägt die Blume, die das Mädchen gefunden hat, und obwohl sie langsam läuft, kann das Mädchen sie, ihr nachrennend, nicht einholen. Die Gegenstände, die das Mädchen in dem Zimmer bemerkt hat, haben nun ihren Platz gewechselt. Sie sieht wie sie selbst dreimal zum Haus kommt, so dass es nun drei von ihr gibt, und obendrein noch sie selbst im Stuhl schlafend. Und von da an, wird das Ereignis, das ursprünglich so einfach war, zunehmend emotional und komplex. Es kumuliert in einem doppelten Ende, in dem es scheint als habe das Vorgestellte für sie eine solche Kraft angenommen, dass es Wirklichkeit wurde. Die Macher dieses Films waren in erster Linie darum bemüht die filmischen Techniken so anzuwenden, dass eine Welt geschaffen wird: Um ein Gefühl auf Film zu bannen, das ein Mensch während eines solchen Ereignisses erfährt, mehr als dieses Ereignis genau aufzuzeichnen.«

Zitatquelle: Filmeinführung auf einem Programmzettel von ca 1945,Reprint in: Film Culture No. 39, Anthology Film Archives, New York 1965; eigene Übersetzung

Kommentar der Inhaltsbeschreibung

Der einleitende Satz von Maya Deren erinnert an die Vorbemerkungen Buñuels zu Un chien andalou (vgl. „Un chien andalou – Ergebnis zweier Träume“). Beide beziehen sich auf innere Erfahrungen aus dem Unterbewusstsein. Beiden Filmen gemeinsam ist auch die non-lineare Erzählweise, der plötzliche Wechsel der Erzählerperspektive und die nahtlosen Übergänge zwischen Passagen, die im konventionellen Film üblicherweise als ‚Traum‘ und ‚Realität‘ deutlich markiert und unterschieden werden. Auch Meshes of the Afternoon hat einen Prolog, in dem die Stimmung geprägt und dem Zuschauer der Charakter des Films deutlich gemacht wird. Beide Filme enden doppeldeutig mit einem Zeitraum-Sprung ans Meer. Wegen dieser Gemeinsamkeiten wurde Maya Derens Arbeit in der Filmgeschichte in die Tradition des Surrealismus gestellt. Dabei wurden aber die Unterschiede und Derens eigenständige filmische Methode manchmal übersehen. Außerfilmische Intentionen, wie etwa die schockierende Provokation des Zuschauers, waren Maya Deren fremd. Sehgewohnheiten werden nicht attackiert, sondern sanft umgelenkt. Trotz seiner Unkonventionalität hat Meshes of the Afternoon eine bruchlose, geradezu flüssige, innere Kontinuität. Die Einstellungsfolge ist nicht absurd, sondern hat eine innere visuelle Logik, die so schlüssig ist, dass auch Zuschauer ohne Avantgardefilm-Erfahrung ihr gerne folgen.