Found-Footage-Film – Collage: Filme von Martin Arnold

Martin Arnolds Trilogie


Der erste Film Arnolds, pièce touchée, ist 16 Minuten lang, benutzt dabei aber nur 18 Sekunden einer einzige Einstellung aus The Human Jungle (Joseph M. Newman, 1954) als Ausgangsmaterial. Zu sehen ist ein Mann, der auf eine im Vordergrund sitzende Frau zugeht, sie küsst und den Raum verlässt. Das Öffnen und Schließen der Zimmertür, zigmal wiederholt, bekommt etwas Bedrohliches. Die Annäherung des Mannes wirkt schier unendlich und scheint nicht gelingen zu wollen. Die banale Handlung verwandelt sich in einen Tanz der Geschlechter. Zumal Arnold die Szene dann auch noch seitenverkehrt und auf den Kopf umkopiert wird sie zunehmend abstrakt.

„pièce touchée“ eingebettetes Video von Martin Arnolds Internetseite (zum Start/Stopp klicken):


Die Ausgangsbilder aus dem zitierten Spielfilm verlieren ihre (frühere) Referenz und werden mit neuen Funktionen und Bedeutungen aufgeladen. So ist pièce touchée auch ein strukturalistischer Film über die Illusion der Bewegung im Film.


Passage à l’acte, beruht auf fünf Einstellungen aus dem Film „To Kill a Mockinbird“ (Robert Mulligan, 1962). Der Ausschnitt zeigt eine vierköpfige Familie am Frühstückstisch. Plötzlich steht der Junge auf und will offensichtlich Tisch und Zimmer verlassen. Doch der Vater ruft ihn zurück. Durch die Wiederholungen, die Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen, scheint der Junge hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch einerseits und der Pflicht dem autoritären Vater (Gregory Peck) zu gehorchen andererseits. In Arnolds Bearbeitung werden so die typischen hierarchischen Familienverhältnisse in Hollywood-Filmen bildlich in den Vordergrund gebracht. Die harmonische Idylle des Familienfrühstücks löst sich bei Arnold auf.

passage à l’Acte“ (12 Min) eingebettetes Video von Martin Arnolds Internetseite (zum Start/Stopp klicken):

Meine filmischen Interventionen fügen den Handlungen der Darsteller ein tick-ähnliches Zucken hinzu, das hin und wieder so dominant wird, dass es aus sich heraus eigene Aktionen zu begründen scheint. Das gleiche gilt für Passage à l’Acte bezüglich des Tons. Wenn man ein Wort rückwärts abspielt, dann wird das Tonbandgerät als Maschine hörbar. Aber, wenn man ein Wort wiederholt vorwärts abspielt und dabei an verschiedenen Einsatzstellen startet, dann passiert etwas, was wir aus dem Leben kennen. Die Wiederholung von Worten und Sätzen gibt ihnen einen „insistierenden Charakter“. Man kann sie mit Litaneien und Befehlen assoziieren. Und die Wiederholung einzelner Silben stellt den Eindruck des Stotterns her. (…) Die Psychoanalyse nimmt an, dass im Falle eines „tics“, die Bewegung, die tatsächlich ausgeführt wird von einer entgegengesetzten oder zumindest anderen Bewegung überlagert wird, die als Folge zensierter Wünsche, Ambivalenzen und aggressiven Schüben unterdrückt werden musste. Etwas Ähnliches gilt für das Stottern: eine Botschaft, die im Konflikt steht mit dem was eigentlich gesagt wird möchte zum Ausdruck kommen. Oder um es allgemeiner zu sagen: in diesem Symptom offenbart sich das Unterdrückte. Das Hollywood-Kino ist, wie ich schon früher sagte, ein Kino des Ausschlusses, der Verweigerung und der Repression. Ich schreibe ihm ein Symptom ein, das einige Aspekte der Repression an die Oberfläche bringt, oder, um es in bescheideneren Worten zu sagen, das eine Idee davon vermittelt, wie hinter der als intakt repräsentierten Welt eine andere, ganz und gar nicht intakte Welt lauert.

Quelle: MacDonald, Scott, in: A Critical Cinema III: Interviews with Independant Filmmakers. University of California Press, Berkeley/Los Angeles/London 1998, S.347 – 362

In Alone. Life Wastes Andy Hardy verwendet Arnold Material aus drei verschiedenen Spielfilmen der Andy-Hardy-Serie (USA 1937 bis 1958), in denen der Schauspieler Mickey Rooney die Hauptrolle als Junge und Judy Garland dessen Schwester spielt. Auch hier stehen Familienszenen im Mittelpunkt. Aus 33 Sekunden Originalmaterial der Vorlage entstanden sieben dramatische Sequenzen, die verschiedene spezifische Beziehungen zwischen dem Jungen Andy und den jeweils anderen Familienmitgliedern darstellen.

In der ersten Sequenz gibt Andy seiner Mom einen Kuss auf die Wange. Was im Original eine eher beiläufige Routinehandlung ist, dehnt Arnold durch Wiederholung und Isolation so aus, dass hieraus der Anfang eines ödipalen Dramas von Begehren und Verlangen wird. In der zweiten Sequenz, mit Andy’s Vater, benutzt Arnold eine Szene, in der Judge Hardy seinem Jungen einen Klaps gibt und »Shut up!« sagt. Diesen kurzen Gewaltausbruch des Vaters zeigt Arnold in Echtzeit, was wie ein Ausrufezeichen auf die vorangegangene Sequenz wirkt, also als Bestrafung für Andy’s Begehren erscheint. In der dritten Sequenz konzentriert sich Arnold auf Andy’s Schwester Betsy (Judy Garland). Es sind Szenen, in denen Judy Garland singt: »Alone on a night that was meant for love / There must be someone waiting who feels the way I do«. In der vierten Sequenz zeigt Arnold eine Trennungsszene: Andy ist im Begriff den Raum zu verlassen und seine Mutter fragt ihn, wohin er wolle. Die fünfte Sequenz wendet sich wieder Betsy zu, die – im übertragenen Sinne – immer noch allein ist und auf Liebe wartet. Arnold setzt ihr hier eine Szene mit einem erwachsen gekleideten Andy entgegen, der ihr zuruft: »Get ready, Betsy, here I come«. Dabei reibt sich Andy – durch Arnolds Wiederholungen des Bildausschnitts betont – mit einem Rohrstock am Schoß. Die darauf folgende Sequenz zeigt Andy und seine Mutter – mit rasch wechselnden Gesichtsausdrücken des Glücks und des Erschreckens – in einer ambivalenten Beziehung zwischen Begehren, Angst und Abscheu. 

Die fünfte Sequenz wendet sich wieder Betsy zu, die – im übertragenen Sinne – immer noch allein ist und auf Liebe wartet. Arnold setzt ihr hier eine Szene mit einem erwachsen gekleideten Andy entgegen, der ihr zuruft: »Get ready, Betsy, here I come«. Dabei reibt sich Andy – durch Arnolds Wiederholungen des Bildausschnitts betont – mit einem Rohrstock am Schoß.

In der siebten und letzten Sequenz finden Andy und Betsy in einem keuschen Kuss zueinander. Obwohl sie im Ausgangsmaterial Geschwister sind, erscheinen sie hier bei Arnold strukturell wie ein Liebespaar in einem Hollywood-typischen, romantischen Happy Ending. 


Psychoanalyse per Einzelbildschaltung

Martin Arnold, der in Wien Psychoanalyse studierte, setzt in dieser Trilogie gewissermaßen Freuds Studien über die Psychopathologie des Alltagslebens filmisch fort und trifft dabei Aussagen über die Pathologie menschlicher Beziehungen, wie sie im amerikanischen Hollywood-Film seinerzeit dominant waren.

Die freudianische Struktur dieser Kabinettstückchen entspringt zweifellos dem Drehbuch Martin Arnolds. Das Erstaunliche und Überraschende ist jedoch einerseits die Glaubwürdigkeit der Szenen in diesem (neuen) Kontext und andererseits die zu Tage tretende, fast plumpe Deutlichkeit der Gesten eines eigentlich zutiefst puritanisch-biederen Films. Die Glaubwürdigkeit und der Witz beruhen letztlich darauf, dass Arnolds Sichtweise und Interpretation bereits in der Mikrostruktur des Materials enthalten ist. Laut Martin Arnold selbst ging es ihm darum zu zeigen, dass »das Hollywood-Kino ein Kino des Ausschlusses, der Reduktion und der Verleugnung, ein Kino der Repression ist« [Programmheft New York Film Festival 1998*]. Arnold deckt diese Verhältnisse durch seine spezifische, analytische Methode auf und macht sie offensichtlich. Er erarbeitet eine filmische Metaebene, die im Original vom Publikum wohl nur unterbewusst wahrgenommen wird, aber sicherlich mit zum Erfolg dieses Hollywood-typischen Filmgenres beiträgt.

*Zitatquelle: Views from the Avant-Garde, New York Film Festival, hrsg. von Mark McEllhatten und Gavin Smith, New York 1998